City of Dust & Shadows by Große Lara

Autor:Große, Lara [Große, Lara]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: LEAF Verlag
veröffentlicht: 2024-09-24T00:00:00+00:00

Jean hatte zweifellos recht damit gehabt, dass eine Fremde an der Seite eines Ducs Aufsehen erregen würde. Unwillkürlich schlossen sich meine Finger fester um seinen Arm. Er blinzelte mir beruhigend zu, und ich zwang meine Muskeln, sich zu lockern. Lass sie gaffen, sagte ich mir und drückte den Rücken durch.

Nachdem wir durch die Flügeltür ins Vestibül getreten waren, vergaß ich die neugierigen Blicke sowieso. »Das, Mademoiselle«, meinte Jean leicht amüsiert und deutete in einer großen Geste durch die Eingangshalle, »ist Versailles.«

Ich antwortete nicht, ich war zu sehr damit beschäftigt, die Pracht um mich herum zu verarbeiten. Jeans Anwesen hatte ich bereits für luxuriös gehalten, doch im Vergleich hierzu war es beinahe bescheiden. Beinahe.

Eine Armee aus Pagen in Gold und Blau servierte Getränke und Häppchen. Einer von ihnen drückte mir ein Champagnerglas in die Hand. Automatisch nahm ich es entgegen und hielt mich daran fest, während Jean mich durch einen Rausch aus Marmor, Gold und poliertem Holz navigierte. An den Wänden und Decken prangten Ornamente, Stuck und Intarsien – gefühlt gab es keinen Zentimeter, der nicht über und über mit Verzierungen bedeckt war. Kristalllüster und mannshohe Kerzenständer tauchten alles in ein sanftes Licht.

Wir kamen an einem riesigen Wandgemälde vorbei, das mich an die Kunstwerke in der Vaillancourt-Galerie erinnerte. Ich blieb stehen, um es zu bewundern. Es zeigte den Dämon als schwarze Masse aus Rauch und unzähligen Armen, umgeben von den strahlenden Gestalten der fünf Heiligen. Mit ihren gigantischen glühenden Schwertern erstachen sie den Dämon.

Neben mir gab Jean ein leises verächtliches Geräusch von sich. »Dieses Motiv ist eindeutig überbewertet«, raunte er mir zu und führte mich weiter.

Prächtig gekleidete Gäste flanierten durch die Flure und Salons, wichen respektvoll vor Jean zurück, verbeugten sich und knicksten. Obwohl einige von ihnen sich uns näherten, blieb er nicht stehen, um Höflichkeiten auszutauschen.

»Was glaubst du, wie er gestorben ist?«, fragte ich und warf über die Schulter einen Blick zurück auf das Gemälde. »Der Dämon, meine ich.«

»Erinnerst du dich an die Spinnen in meinem Arbeitszimmer?«

Ich verschluckte mich fast. »Zufällig schon.«

»Das sind Röhrenspinnen«, erklärte Jean. Von irgendwoher erscholl Musik, die lauter wurde, als wir eine breite, von Balustraden gesäumte Treppe hinaufstiegen. »Weißt du, was diese Spinnenart besonders macht?«

Ich unterdrückte ein nicht sehr prinzessinnenhaftes Schnauben. »Na klar«, sagte ich. »Sie haben Punkte.«

Jean lächelte. »Das auch. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus. Das Weibchen ist nämlich eine besonders aufopferungsvolle Mutter. Sie mästet sich selbst, bis ihre Jungtiere schlüpfen, dann hört sie auf zu fressen und stirbt. Sie dient ihren Kindern als Nahrung, um deren Überleben zu sichern. Dieses Phänomen wird Matriphagie genannt.«

Ich war mir ziemlich sicher, dass ein fettes Fragezeichen in meinem Gesicht stand. »Das ist ja sehr interessant, aber …«

»Was das mit dem Dämon und den Heiligen zu tun hat?«

»Genau.«

»Nun, ich glaube, der Dämon – oder vielmehr die Dämonin – hat das Gleiche getan. Die Mutterdämonin kam nicht grundlos in unsere Welt, es ist Teil ihres Lebenszyklus. Sie zog durch das Land, mästete sich mit der Furcht der Menschen, und als sie damit fertig war, starb sie. Und ihr Körper bildet seitdem die Brutstätte, die Nahrung für ihre Nachkommen, die Anx.

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